Samstag, 8. Dezember 2007
Caput 7: Politisierung Teil IV - oder: Der "Heiße Herbst" von 1983
Es waren nur wenige Monate seit der "Wende" und dem Regierungsantritt von Helmut Kohl vergangen. Und doch schien dies schon der sprichwörtliche Schnee von gestern zu sein. Jedenfalls soweit ich mich heute noch in meine damalige Perspektive hineinversetzen kann. Spätestens seit Reagans "Empire-of-evil"-Rede und der damit verbundenen Ankündigung des SDI-Raketenabwehrprogramms sowie dem schroffen Platzen-lassen der Genfer Abrüstungsverhandlungen war die politische Atmosphäre emotional hochgradig aufgeladen. Je näher die Stationierung der amerikanischen Pershing-II-Raketen rückte desto mehr. Die amerikanische Kaserne in Mutlangen avancierte - angesichts des Unwillens der bundesdeutschen Regierung, die elementaren Interessen des deutschen Volkes zu vertreten - zu einem nationalen Symbol des Widerstandes und der Legitimität zivilen Ungehorsams, vor dem sogar Nobelpreisträger wie Heinrich Böll demonstrierten. Dass man einer amerikanischen Desinformation aufgesessen war, dass die Atomraketen in Wirklichkeit klammheimlich an einem ganz anderen Ort stationiert worden waren, dies erfuhr die Öffentlichkeit und somit auch ich erst ein paar Jahre später, als der ganze gemeingefährliche Krempel dank Gorbatschow still und leise verschrottet wurde.

Ich habe an keiner der zahlreichen Demonstrationen dieses Jahres teilgenommen. Mein kleines Heimatdorf lag viel zu weit von den Schauplätzen solcher Ereignisse entfernt. Mit meinen damals gerade einmal 16 Jahren hätten meine Eltern mich auch gar nicht dorthin fahren lassen. Zumal ich mich in einer Stimmung befand, die mich durchaus befähigt hätte Steine auf Amerikaner oder Polizisten zu schmeißen oder sonstige Dinge zu tun, die ich später wahrscheinlich bereut hätte. Stattdessen beschränkte ich mich notgedrungen darauf, regelmäßig und oft bis spät in die Nacht hinein die Nachrichten und politischen Sondersendungen zum Thema im Fernsehen anzusehen, gierig jeden Montag die Neuausgabe des "SPIEGELS" zu verschlingen und in der Schule heiße Diskussionen zu führen - die eigentlich mehr Selbstbestätigungen waren, da inhaltlich mit keinem meiner Mitschüler irgendein Dissens bestand.

Den Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag bei den Wahlen vom 6. März 1983 habe ich unter diesen Umständen leidenschaftlich begrüßt. Sogar Erich Honecker wurde mir ein Mal - nur dieses eine einzige Mal - so etwas wie sympathisch, als er von der deutschen Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden sprach. Eigentlich wären die Grünen also die ideale Partei meiner Wahl gewesen - wenn, ja, wenn da nicht ein paar Dinge gewesen wären, die mich davor zurückschrecken ließen. Zunächst einmal diese Atmosphäre von Kindergeburtstag, die sie bei jedem ihrer Happenings um sich zu verbreiten wußten. Und dann vor allem jene marxistisch angehauchten FundamentalistInnen, die ganz offen sagten, dass sie aus revolutionärem Prinzip niemals regieren sondern stattdessen lieber über die Welt im Allgemeinen und im Besonderen theoretisieren wollten. Gegen eine solche Mentalität rebellierte dann doch mein trotz Allem bereits eingefleischter Konservatismus.

Stattdessen imponierte mir gerade in diesen Monaten, wie erfolgreich, konsequent und professionell Willy Brandt den Mitverursacher des aktuellen politischen Desasters, Helmut Schmidt, abmeierte und die SPD auf einen verantwortungsvollen politischen Kurs zurück steuerte. Das war eine ganz große politische Leistung, die meiner festen Überzeugung nach bis heute nicht angemessen gewürdigt wurde. Allen späteren Lobeshymnen auf Helmut Schmidt von Gerhard Schröder und Konsorten zum Trotz. Es war diese Brandtsche Mischung aus charismatischer Strahlkraft, politischer Klugheit und nationalem Verantwortungsbewußtsein, die bei mir die Aggressionen und intensiven Hassgefühle abmilderten und schließlich dazu führten, dass ich in die SPD eintrat. Allerdings erst anderthalb Jahre später, drei Tage nach meinem 18. Geburtstag. Damals mußte man nämlich noch volljährig sein um Parteimitglied werden zu können. Wäre es bereits mit 16 Jahren möglich gewesen - ich wäre schon im "heißen Herbst" 1983 eingetreten.

Übrigens bin ich bis heute Sozialdemokrat geblieben. Auch unter Gerhard Schröder. Obwohl dieser es einem sehr schwer, ja, fast unmöglich machte. Das hat etwas mit Loyalität zu tun. Und mit einer ganz tiefen und wichtigen persönlichen Lebenserfahrung. Will man sie nachempfinden, so sollte man sich noch einmal den "Kodo"-Song von DÖF anhören. Er trifft wirklich diesen Punkt.

Es war kaum zufällig auch 1983, als ich begann, mir die Haare lang wachsen zu lassen. Ein Jahr später kaufte ich mir dann meine erste Stretch-Jeans, die wirklich vom Po bis zu den Unterschenkeln auf der Haut saß. Weil die bisherigen knallengen Jeans in meiner neuen Selbstwahrnehmung einfach nicht mehr knalleng genug waren.

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